Bulimie
Einleitung
Die Ess-/Brechsucht, auch Bulimie genannt, ist eine "heimliche" Erkrankung. Die Betroffenen leiden oft jahrelang, bevor jemand von ihren Problemen erfährt und sie Hilfe holen.
Häufigkeit
An der Bulimie (Ess-/Brechsucht) leiden in Europa und Nordamerika schätzungsweise 2 - 4 % der 15 - 35-jährigen Frauen und 0.5 % der Männer im gleichen Alter.
Die Bulimie ist als Diagnose erst seit 1980 bekannt. Die Häufigkeit, mit der diese Erkrankung diagnostiziert wird, hat in den letzten 20 Jahren deutlich zugenommen.
Sympotme
- Wiederholte Episoden von Fressanfällen mit Kontrollverlust, bei denen innerhalb einer bestimmten Zeitspanne (z. B. 2 h) eine deutlich grössere Nahrungsmenge gegessen wird, als die meisten Menschen unter ähnlichen Bedingungen essen würden.
- Kompensatorische Verhaltensweisen zur Gewichtskontrolle (selbstinduziertes Erbrechen, Missbrauch von Abführmitteln und anderen Medikamenten, Fasten, übermässige Bewegung).
- Die Fressanfälle und das kompensatorische Verhalten treten seit mindestens 3 Monaten durchschnittlich 2 x pro Woche auf.
- Die Selbstbewertung ist übermässig von der Figur und dem Gewicht abhängig (Selbstwertstörung).
Was erleben die Betroffenen?
- "Essen und Erbrechen ist die einzige Art, mich zu beruhigen."
- "Ich habe Lust zu essen, das Erbrechen nehme ich als notwendige Konsequenz in Kauf."
- "Essen ist mir unwichtig, Erbrechen erlebe ich als rein und reinigend."
- "Ich bin schlecht und kotze das Schlechte aus mir heraus."
- "Auch der allerkleinste Teil "verbotene Nahrung" führt zur extremen Gewichtszunahme."
- "Ich muss Nahrung wieder erbrechen, denn sie ist unverdaubar und verschmutzt mich innerlich."
Körperliche Beeinträchtigung als Folge der Ess-Brechanfälle
- Zahnschädigungen
- Wassereinlagerung im Gewebe (Ödeme)
- Schwellung der Ohrspeicheldrüsen
- Obstipation
- Hormonstörungen
- Unregelmässige Menstruationsblutungen
- Elektrolytstörungen
- Herzrhythmusstörungen
- Nierenfunktionsstörungen
- u. a.
Die Ess-Brechanfälle verändern zwar oft wenig das äussere Aussehen des Körpers. Sie verändern aber wichtige innere Funktionen und stören das innere Gleichgewicht, so dass die Betroffenen nicht nur auf Grund der psychischen Erkrankung als solcher in ihrem Funktionieren beeinträchtigt werden, sondern auch durch die Eigendynamik des Körpers mit Veränderung der Gefühle, der Wahrnehnmung und der Konzentrationsfähigkeit.
Auslösende Faktoren
Es ist wichtig, zwischen auslösenden Faktoren, Risikofaktoren und Hintergrundkonstellationen zu unterscheiden. Bulimie entwickelt sich in der Regel bei Zusammenwirken verschiedener Faktoren. Als auslösende Faktoren gelten:
- Diäten (in 90 - 95 % der Fälle beginnt die Bulimie mit einer rigiden Diät, die das Essverhalten destabilisiert)
- Verlust von nahen Bezugspersonen (z. B. Tod des Grossmutter, Krankheit der Mutter, Alkoholprobleme des Vaters)
Risikofaktoren
- Persönlichkeit
Als Risikofaktoren der Persönlichkeit, d. h. im Hintergrund vorhandene persönliche Konstellationen, die das Zustandekommen einer Bulimie begünstigen, gelten:
- Ausgeprägte Impulsivität
- Grosse Lebendigkeit, oft Kreativität, für die kein angemessener Ausdruck gefunden wird
- Überforderung im Alltag durch vorzeitige, oft aufgezwungene Selbständigkeit (Pseudo-Autonomie)
- Freiheitsdrang
- Ausgeprägte Schambereitschaft
- Soziales Umfeld
Als Risikofaktoren des sozialen Umfeldes, d. h. in nahen Beziehungen vorhandene soziale Konstellationen, die das Zustandekommen einer Bulimie begünstigen, gelten:
- Ungeordnete Familiensituation
- Suchtprobleme (Alkohol-, Drogen-, oder Medikamentenabhängigkeit der Eltern)
- Realverlust wichtiger Bezugspersonen
- Sexueller Missbrauch
- Überforderung durch die Notwendigkeit früher Selbständigkeit (Pseudoautonomie)
Die Erkrankung eines Familienmitglieds an einer Bulimie ist ein bedeutender Stress für die ganze Familie und führt zu Problemen im Zusammenleben. So ist es häufig schwer abschätzbar, ob spezielle Beziehungsmuster in der Familie eher mitursächlich für die Erkrankung oder eher deren Folge sind.
Behandlung
Die Behandlung der Bulimie kann sowohl ambulant als auch stationär erfolgen. Je intensiver die Symptome sind und je häufiger erfolglos versucht wurde, die Erkrankung mit ambulanten Massnahmen zu verbessern, desto eher ist eine stationäre Behandlung angezeigt. Die Schwierigkeit bei der Behandlung der Bulimie ist, dass die Betroffenen keine Ess-/Brechanfälle mehr haben wollen, dabei jedoch die notwendige Rhythmisierung des Essverhaltens ablehnen, da sie eine Gewichtszunahme befürchten oder eine weitere Gewichtsabnahme anstreben.
Zur Behandlung der Ess-Brech-Symptomatik ist unumgänglich, dass folgendes angestrebt resp. erreicht wird:
- Rhythmisierung der Nahrungsaufnahme (mindestens 3 Hauptmahlzeiten täglich sitzend zu sich nehmen)
- Aufgeben eines unrealistischen Zielgewichts (eines Gewichtes, das unterhalb des individuellen Setpoint-Gewichtes liegt)
- Ausdehnen von Phasen ohne Ess-/Brechanfälle
- Suchen anderer Formen, sich zu beruhigen
- Versuchen, innere Unruhe zu verstehen und auszuhalten
Langzeitverlauf
50 - 60 % der an Bulimie Erkrankten genesen, vollständig oder fast vollständig, 20 - 30 % genesen partiell, 10 - 20 % entwickeln eine chronische Bulimie und 0,5 % sterben.
Begleiterkrankungen
Begleiterkrankungen sind Erkrankungen, die häufig zusammen mit einer bestimmten anderen Erkrankung auftreten.
Die häufigsten Begleiterkrankungen (Komorbidität) der Bulimie sind Depressionen, Suchterkrankungen, posttraumatische Belastungsstörungen und Persönlichkeitsstörungen.
Die Begleiterkrankungen müssen behandelt werden.